Als Begründung für seine Unterstützung des Aufrufs zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus hat uns Dr. Frank Rößner die folgenden Erinnerungen geschrieben. Der Autor ist Jahrgang 1940. Seine hier veröffentlichten Erinnerungen umfassen Kindheitserlebnis, Studium in Moskau, Beruflicher Start im Petrochemischen Kombinat (PCK) Schwedt und seine Aktuelle Haltung zu Russlandland und zum Weltfriedenskampf.
Erinnerungen an Begegnungen mit Menschen in der Sowjetunion und an die UdSSR
von Dr. Frank Roßner
Meine prinzipielle Haltung zur Sowjetunion und dem Sowjetvolk wurde fundiert durch das 6-jährige Studium bis 1965 in Moskau. Hier habe ich die russische Sprache als Grundlage aller Erkenntnisse, Erfahrungen und emotionalen Eindrücke „von der Pike auf“ erlernt. Hier haben tiefgründige Begegnungen mit dem riesigen Vielvölkerstaat und seiner Bevölkerung stattgefunden. Hier wurden die Grundlagen für meine Liebe zur Kultur und Volkskunst gelegt.
Zwei persönliche Erlebnisse stehen exemplarisch für meine enge Verbindung zur Sowjetunion und zu den Sowjetmenschen
Ein Kindheitserlebnis
Es geht unmittelbar zurück auf die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschis-mus durch die Sowjetarmee unter Beteiligung der Alliierten. Im Sommer 1945 hatten fast alle Einwohner in unserer Kleinstadt Wilkau-Haßlau am Fuße des Westerzgebirges panische Angst vor den „Russen“. Das ist verständlich, wurde doch einerseits unter der 12-jährigen Naziherrschaft in Deutschland und den Jahren davor permanent gegen die „Russen“ und die dort herrschenden “Bol-schewisten“ und „Kommunisten“ aufs Übelste gehetzt. In der Kriegspropaganda und -berichterstattung wurden primitivste Gruselgeschichten verbreitet. Ande-rerseits hatten deutsche Soldaten beim Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und in der Zeit danach barbarisch gewütet. Das war zum Teil auch Inhalt der Soldatenbriefe von der Front, so wurde folgerichtig in der Bevölkerung drastische Rache erwartet. Diese Gemengelage führte dazu, daß auch unsere Mut-ter Angst hatte. Noch dazu, daß unser Vater als Apotheker noch Ende November 1944 zur faschistischen Armee einberufen wurde, aus dem Krieg nicht zurückgekehrt und sie allein mit vier Kindern war.
Selbst im Juni 1945, als die Rote Armee in Westsachsen einzog, wurden noch verleumderische Geschichten über die unmittelbare Vergewaltigung der Frauen, die brutale Behandlung der Kinder in meinem Heimatort erzählt, die so im Ort und der Umgebung nachweisbar nicht stattgefunden hatten. Dazu kam der äu-ßere Eindruck der Sowjetarmee: Durch die langen, heftigen Kriegshandlungen im Osten bzw. Südosten total erschöpfte Soldaten, verschmutzte Uniformen. Das stand im schroffen Gegensatz zu den amerikanischen Armeeangehörigen, die Anfang Mai aus westlicher Richtung kommend, ohne wesentlichen kriege-rischen Widerstand den thüringisch-sächsischen Raum erreichten.
Wir wohnten damals in der von unserem Vater gepachteten Apotheke, einem ansehnlichen Gebäude. Als unserer Mutter eines Tages mitgeteilt wurde, daß am Abend sowjetische Offiziere das Haus besichtigen wollten, hatte sie ganz furchtbare Angst um uns Kinder. Damit uns die “bösen“ russischen Soldaten nicht sehen sollten, brachte sie uns zeitig ins Bett im 1. Stock. Mit beträcht-
lichem Herzklopfen und riesiger Angst stand Mutter mit den sowjetischen Offi-zieren im Treppenhaus, nachdem diese die großen Apothekenräume im Erdge-schoß mit Wohlwollen besichtigt hatten. Das geräumige Haus gefiel ihnen of-fensichtlich sehr gut. Über den Dolmetscher wurden gerade einige Fragen über-mittelt, da klappte im Obergeschoß eine Tür. Mutter erschrak, sie meinte, ihr Herz müßte stehenbleiben. Ein Lockenkopf wurde sichtbar und ich als fünf-jähriger Steppke verkündete unbeeindruckt von den vielen fremden Männern in Uniform, ich müsse mal auf Toilette. Wie Mutter später erzählte, hatte sie Rie-senangst um das Leben ihres Sohnes, aber es geschah in ihren Augen ein Wun-der. Die Soldaten waren sichtlich gerührt von meinem Anblick und fragten, ob Mutter noch mehr Kinder habe. Nun glaubte sie, das Leben aller ihrer Kinder sei gefährdet, aber das Gegenteil war der Fall. Ein Offizier klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und sagte. „Du ganz ruhig Frau, Kinder behalten Wohnung!“ Die Männer verließen das Haus, der Militärstützpunkt wurde in einer Nachbarge-meinde eingerichtet. So habe ich, der nicht gleich einschlafen konnte, unbewußt die Wohnung für unsere Familie gerettet. In der Familie haben wir uns später oft daran erinnert. Dieses Ereignis machte auch in der Umgebung schnell die Runde. Später haben viele Deutsche, auch ich, die Erfahrung gemacht, wie kinder-freundlich die Sowjetmenschen sind. Soweit meine erste kindliche Berührung Im Alter von 5 Jahren mit der großen, vielgestaltigen Sowjetunion und einem Teil der russischen Seele.
Jetzt möchte ich Begegnungen schildern, die meinen weiteren Lebenslauf und mein Verhältnis zur Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation stark beeinflußt haben.
Studium in Moskau
Im Vorfeld zunächst eine Charakterisierung der Nachkriegsperiode, so wie siesich vor allem im Zusammenhang mit der Schilderung meines deutsch-sowje-tischen Lebenslaufes widerspiegelt. Die Zeit nach 1945 war zunächstbestimmt durch den Wiederaufbau des Landes, von Reparationslieferungen und -leistun-gen für die Sowjetunion, die Tätigkeit der Betriebe der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SAG-Betriebe). Nach wenigen Jahren schon erfolgte der Beginn einer international beispielhaften, umfangreichen Rohstoff-, Produkt- und Erzeugniskooperation mit der Sowjetunion. Ein weiterer für mein Leben bedeutender Schritt war das Studium in der Sowjetunion. So wie das von fast vierzigtausend DDR-Studenten in naturwissenschaftlich-technischen, medizi-nischen, gesellschaftswissenschaftlichen, künstlerischen und anderen Fachrich-tungen bis Anfang der 1990er Jahre, von Aspiranten, Militärangehörigen, Be-triebsvertretern usw. an sowjetischen Universitäten, Hochschulen, Akademien und anderen Einrichtungen.
Ich erlebte Anfang der 1960er Jahre die Aufbruchstimmung in der UdSSR mit Spitzenleistungen in der Weltraumforschung, dem Start der Sputniks, dem Flug von Juri Gagarin am 12.04.1961 und von Valentina Tereschkowa. An die enthusiastische Begrüßung von Juri Gagarin am 14. 04.1961 in Moskau kann ich mich noch sehr genau erinnern.
Ein Meilenstein auch im Zusammenhang mit meinem beruflichen Start war die Inbetriebnahme der Erdölleitung „Freundschaft“ 1964 mit dem DDR-Endpunkt Schwedt. Für die Chemische Industrie waren neben den Erdöllieferungen aus der UdSSR die Beteiligung der DDR am Bau der Erdgastrasse in den 1970er/ 1980er Jahren, der Export in die UdSSR von Chemieanlagen, Kosmetik-, Film-, Pharmazieerzeugnissen und vielem anderem mehr von besonderer Bedeutung. Hervorhebenswert vor allem, daß Grundlage dafür strategische Abstimmungen zur langfristigen, zweiseitigen Kooperation über verschiedene Wirtschaftszweige hinweg waren.
In besonderer Erinnerung ist mir natürlich auch der Kosmosflug von Sigmund Jähn und Waleri Bykowski im August 1978 und die Nachwirkungen bis heute..
Soweit eine unvollständige Darstellung in Stichpunkten für mich besonders he-rausragender Stationen und Ereignisse der deutsch- sowjetischen Beziehungen bis Ende der 1980er Jahre.
Wie schon erwähnt erlebte ich zu Beginn meines Studienaufenthaltes in Moskau eine Aufbruchstimmung in der Sowjetunion und die deutsch-sowjetische Freundschaft in Aktion. Sie hatte wesentlichen Einfluß auf meine politische und kulturelle Bildung, prägend vor allem als Klassische Musik, klassisches Ballett, sowjetisch/russische Volkskunst, insbesondere in Darstellungen durch weltbe-rühmte Gesangs- und Tanzensembles und herausragende Solisten. Eine Vielzahl sehr offener Begegnungen, herzlicher Erlebnisse, tiefer Eindrücke und emotio-naler Höhepunkte der russisch-sowjetischen Gastfreundschaft hatte ich durch mein Studium der Verfahrenstechnik an der Moskauer Lomonossow-Hochschule für chemische Feintechnologie (MITChAT). Die Spannbreite umfaßte:
– das Leben im Milieu eines internationalen Studentenwohnheims,
– ein halbjähriges Praktikum im Chemiekombinat Nowomoskowsk bei Tula,
– die Mitwirkung an Auftritten des Ensembles der DDR-Studenten und -Aspi-ranten in Moskau (Chor, Quartett, Oktett, Tanzgruppe, Band). In Erinnerung ist mir dabei vor allem eine Wolga-Don-Schiffsreise 1960 mit einem emotional beeindruckenden Konzert im Zeiß – Planetarium in der Heldenstadt Stalingrad/ Wolgograd. Das war erst 15 Jahre nach Beendigung des faschistischen Krieges, das Planetarium ein Geschenk der DDR an die Stadt.
– Dolmetscher-Einsätze bei großen internationalen Industrieausstellungen in Moskau, der DDR-Präsentation in einer Ausstellung zu ihrem 10. Jahrestag und einem Empfang von Juri Gagarin durch den DDR-Botschafter,
– regelmäßige Besuche von Gemäldegalerien, Theater-, Ballett- und Konzertauf-führungen in Moskau, Auftritten der Violin-, Klavier- und Cellovirtuosen David Oistrach, Swjatoslaw Richter, Mstislaw Rostropowitsch u.v.a., des Alexandrow-, Moissejew-, Berjoska-Ensembles, Pjatnitzki-Chores und anderer sowjetischer Volkskunstkollektive,
– Exkursionen in die Moskauer Umgebung (Russisch-Orthodoxes Zentrum Sa-gorsk/Sergijew posad, Istra-Paddelboottouren, Skiwanderungen u.a.),
– Teilnahme an Auftritten in Schulen und Kolchosen durch eine DDR-Studenten-Singegruppe in Moskau und Umgebung (in besonderer Erinnerung: auf Deutsch vorgetragene Kulturprogramme sowjetischer Mittelschulabsolventen auf bemerkenswert hohem Bildungsniveau),
– Beteiligung an vom Komsomol organisierte Semester-Ferienreisen gemischter Gruppen von Auslandsstudenten nach Leningrad, die baltischen und transkau-kasischen Unionsrepubliken mit beeindruckenden Freundschaftserlebnissen,
– Museumsbesuche in Jasnaja Poljana (Lew Tolstoi), Klin (Peter Tschaikowski), Zarskoje selo u.a.
Enge Beziehungen zur Sowjetunion zu Beginn meines beruflichen Starts
Er begann 1965 im Petrolchemischen Kombinat Schwedt (PCK). Bereits 1959 wurde das DDR-Chemieprogramm„Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit“ beschlossen. Im Rahmen dieses Programms wurden große Industriekomplexe errichtet. Ab Anfang der 1960er Jahre ging es um den Aufbau einer leistungsfä-higen Erdölverarbeitung und Petrolchemie, um die Rohstoffbasis für die Chemi-sche Industrie zu erweitern. Es war mein Wunsch, in dem im Entstehen begriffe-nen Betrieb in Schwedt an der Oder tätig zu werden. Dieses große volkswirt-schaftliche Vorhaben wurde mit Unterstützung und in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gestartet.
Mitte der 1960er Jahre war der Probebebetrieb der 1. Ausbaustufe in vollem Gang. Es war die Zeit einer ersten Bewährungsprobe für die junge Belegschaft, die aus vielen Gegenden der Republik kam und unter zum Teil abenteuerlichen Bedingungen in Schwedt wirksam wurde. Ein Teil des Fachpersonals wurde in mehrmonatigen Ausbildungspraktika in sowjetischen Raffinerien qualifiziert. Viele Frauen wurden für moderne Tätigkeiten als Anlagen- bzw. Meßwarten-fahrerin vorbereitet.
Für das PCK wurde auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses zur „Kom-plexautomatisierung Schwedt“ vom Juli 1964 das Ziel formuliert, bis 1970 ein integriertes Datenverarbeitungssystem für die Prozeßsteuerung zu schaffen. Zur Realisierung wurde eine spezielle Abteilung vorwiegend junger Absolventen sowjetischer und DDR-Hochschulen formiert, die sich aus Verfahrenstechnikern, Meß- und Regelungstechnikern, Ökonomen, Mathematikern, Physikern und Chemikern zusammensetzte. Gegenstand des Auftrages im beginnenden Zeital-ter der elektronischen Datenverarbeitung und Rechentechnik war die Steuerung der Produktionsanlagen, die dynamische Optimierung und Qualitätssicherung der Zielprodukte. Gleichzeitig ging es um die effektive Gestaltung der innerbe-trieblichen Logistik und des Versandes einschließlich des Pipelinetransportes verschiedener Erdölfraktionen, der Verwaltungsorganisation und wirtschaftli-chen Rechnungsführung, die Anlagenbilanzierung, eine rechnergestützte Werks-bilanz. Darüber hinaus wurde der stoffwirtschaftlichen Verflechtung mit Che-miestandorten im mitteldeutschen Raum und der Verzahnung mit der Deutschen Reichsbahn Rechnung getragen. Als Voraussetzung dazu wurde eine Rech-nerhierarchie von Produktionsleit- und Anlagenrechnern installiert. Diese erste Etappe war eine entscheidende Grundlage für das spätere hohe wissenschaft-lich-technische und technologische Niveau des PCK Schwedt.
Ohne in weitere Details und Probleme einzutauchen, die mit der inhaltlichen Durchdringung des komplexen Produktions- und Reproduktionsprozesses, seiner Effektivierung und der Verknüpfung mit der ökonomischen Datenverarbeitung verbunden waren, möchte ich im Nachgang hervorheben, daß ich beim Start ins Berufsleben im PCK von der interessanten Aufgabe der Prozeßautomatisierung in der Erdölverarbeitung sehr profitierte. Gefordert waren ein hohes Fachwis-sen, kollektive Zusammenarbeit, die gezielte Berücksichtigung von Systemzu-sammenhängen, der gesellschaftliche Bezug. Und um all das bemühten wir uns in einem schöpferischen Arbeitsklima mit viel Enthusiasmus. Das geschah häufig unter Zeitdruck, in kollegialer Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern ver- schiedener Betriebe und Forschungseinrichtungen. Ich erhielt die Möglichkeit in diesem jungen Arbeitskollektiv und bei der kritischen Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten beim Einsatz der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) zu wirken. Fachlich und menschlich habe ich sehr viel gelernt. In meinen weiteren Berufsjahren in anderen Funktionen habe ich auf diese Erfahrungen mit Erfolg zurückgreifen können.
Bei der Lösung dieser Aufgabenstellung war ich eingebunden in ein gemeinsa-mes UdSSR/DDR-Projekt der „Zweiseitigen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Komplexautomatisierung von Raffinerieprozessen“. Damit verbunden war die Möglichkeit, mit Spezialisten an Standorten der Erdölverarbeitung und in For-schungseinrichtungen in Moskau, Rjasan, Ufa und Leningrad zusammenzutref-fen. Durch Fachdiskussionen und gemeinsame Teilprojekte wurden Lösungs-schritte zielgerichtet und effektiv zum gegenseitigen Vorteil vorantrieben. Die persönlichen Arbeitsbegegnungen und fröhlichen Zusammenkünfte an Feier-abenden waren Ausdruck eines sehr freundschaftlichen Klimas.
Bei all den aufgeführten und anderen Gelegenheiten wurde mit Russen, den Familien, Angehörigen anderer Völker der Sowjetunion gefeiert, gesungen und getrunken. So entwickelte sich ein Gefühl für die „Russische Seele“ mit Aufrich-tigkeit, Bescheidenheit und Vielfalt der Menschen in diesem Riesenland. Mani-festiert haben sich bei mir die fundierte kulturelle Bildung, die Liebe zum Volks-kunstschaffen und zur künstlerischen Improvisation, die Achtung vor dem und die Sympathie für das deutsche Volk, das Interesse für die deutsche Kultur und Literatur – trotz des Weltkriegsdesasters! Ich bekam tiefe Eindrücke davon, in welch unvorstellbarem Maß das Sowjetland unter dem von Deutschland ent-fachten Zweiten Weltkrieg gelitten hat und noch immer leidet. Ich habe bis heute Respekt und Dankbarkeit gegenüber Russen, Ukrainern, Bjelorussen, Ka-sachen und anderen ehemaligen Sowjetvölkern. Meine Sympathie gilt ihnen unverändert.
Meine aktuelle Haltung zu Rußland und im Weltfriedenskampf
Trotz der katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entwick-lung in der Ära von Gorbatschow und Jelzin und des heute existierenden Oligar-chenkapitalismus in Russland habe ich – wie viele andere Bekannte – meine frü-here Position zur UdSSR weitgehend auf das heutige Russland übertragen. Es ist aber eine differenziertere Haltung zu den innen- und außenpolitischen Prozes-sen und Vorgängen als zu Zeiten der Sowjetmacht. Sie ist objektiver und facet-tenreicher geworden. Sie unterscheidet sich nicht prinzipiell von einer sachlich-kritischen Analyse anderer kapitalistischer Staaten. Es gibt aber einige spezifi-sche Betrachtungsaspekte und Wertungskriterien, die für meine Rußlandsicht maßgebend sind.
Sie basiert auf der Grunderkenntnis aus den vielen persönlichen Begegnungen mit Sowjetbürgern, wie der opferreiche Sieg über den deutschen Faschismus in der rußländischen/ehemals sowjetischen Bevölkerung unter den veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen lebt. Das spüre ich immer wieder im Zusammenhang mit der Würdigung des Tages der Befreiung des deutschen Volkes am 8. Mai und des Tages des Sieges am 9. Mai auf Kundgebungen am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin. Die antifaschistische, nati-onal-patriotische Geisteshaltung in weiten Teilen der Völker der ehemaligen Sowjetunion ist für mich ein wichtiger Berührungspunkt. Er fordert auch aktuell zu Sympathie und Hochachtungheraus. Dank gebührt der Sowjetunion nicht nur für die opferreiche Niederschlagung des Hitlerfaschismus, sondern auch für die Unterstützung in 40 Jahren DDR.
Wichtig für mich sind die prinzipiellen, offiziell von Putin im Deutschen Bundes-tag 2001 bzw. auf der Münchener „Sicherheitskonferenz“ 2007 verkündeten Positionen, die einerseits den Willen zur Zusammenarbeit mit Deutschland und andererseits die hinterhältige Politik der Westmächte zur Erniedrigung Rußlands und ihrer Bewohner betreffen.
Ich bin besorgt, ob der Haltung der Bundesregierung, des eisigen Verhältnisses vieler Deutscher, vor allem westdeutscher Sozialisation, zu den „Russen“. Ich bin erschrocken, wie die heute Deutschland Regierenden „alles zu DDR-Zeiten schon Errungene“ aufs Spiel setzen. Die aggressive NATO-Strategie und die eskalieren-den Einkreisungsschritte gegen Russland schließen für mich aus, nur neutraler Beobachter zu sein. Ich wende mich entschieden dagegen, daß unter dem Schirm von USA und NATO Teile der deutschen Großbourgeoisie, Nachfahren des faschistischen deutschen Offizierskorps und neue antirussisch eingestellte Revanchisten versuchen, eine Korrektur der im 2. Weltkrieg erlittenen Niederla-ge zu erreichen.
Gremien wie das Deutsch-Russische Forum und der Petersberger Dialog werden nach meinem Eindruck seit Jahren ihrer politischen Verantwortung nur in Teilen und insgesamt ungenügend gerecht. Ich beobachte, wie im Gegensatz dazu, ca. zwei Drittel der Deutschen, ein gutes Verhältnis zu Russlandwünschen. Viele deutsche Konzerne und mittelständige Unternehmen sind in Russland engagiert und für eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen.
Die militärpolitischen Entwicklungen in der Welt, in Europa, insbesondere auch in Deutschland, zwingen mich zu einer eindeutigen, realen Position: Sie wird grundlegend bestimmt von der unbedingten Notwendigkeit der Erhaltung des Friedens in Europa und der Welt insgesamt. Die Zustimmung ist für mich ange-messen und konsequent – und darin besteht meine Hoffnung – wenn es den Mächtigen in Russland gelingt, gefährliche, von den USA und der NATO geschaf-fene politische und militärische Konfliktsituationen zu entschärfen, wenn von russischer Seite besonnen, diplomatisch klug und deeskalierend gehandelt wird.
Russland ist gegenwärtig der einzige kapitalistische Staat, der sich ausgehend von seinen Interessen und zur Sicherung des eigenen Überlebens – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – gegen das Diktat der US-Administration unter Trump zur Wehr setzt. Putin und die russische Regierung haben Russland als ge-wichtigen und ernstzunehmenden Faktor auf die internationale Bühne zurückge-führt. Ohne Russland mit seiner aktuellen politischen Strategie der Führung wären die gegenwärtigen chaotischen Zustände in der Welt noch desaströser und gefährlicher. Es ist das Verdienst Putins und der russischen Regierung auf grobe und perfide antirussische Provokationen besonnen reagiert und schon glimmende Zündschnüre eines neuen großen Krieges, z.B. in Syrien, rechtzeitig unschädlich gemacht zu haben.
Die internationalen Beziehungen und die geostrategischen Auseinandersetzun-gen werden offensichtlich zukünftig durch ein Klima der weiter forcierten Feind-schaft, des tieferen Hasses und gefährlicherer Provokationen von Seiten der USA und der NATO geprägt. Ziel sind globale Machtverschiebungen, was bei den zum Teil stark divergierenden imperialen Kräften zu nicht vorhersehbaren politischen Konstellationen führen würde. Die globalen Ansprüche von „USA first“, NATO und EU, die die grundlegenden Interessen der Völker Rußlands und Chinas ne-gieren, beschwören die unkalkulierbare Situation eines 3. Weltkrieges herauf.
Meine Hoffnung besteht in der Stärkung der Wirtschaftskraft Rußlands und dem geopolitischen Zusammenwirken mit einer aufblühenden Volksrepublik China unter Anerkennung der beidseitigen Interessen und Möglichkeiten. Damit muß es gelingen, die extrem gefährlichen, von den USA und der NATO in den ver -schiedensten Regionen der Welt geschaffenen, politischen und militärischen Konfliktsituationen zu entschärfen. Ich wünsche, daß im Bündnis der Russischen Föderation und der Volksrepublik China die friedliche Koexistenz der Staaten gelingt, im Zusammenwirken mit den fortschrittlichen Kräften für Frieden und Völkerverständigung in der Welt besonnen und deeskalierend gehandelt werden kann.
Darin besteht für mich gegenwärtig die einzig denkbare Lösung, um künftig nicht nur die Sicherheit beider Länder und ihres sozialen Zusammenhalts zu garantie-ren, sondern auch die Welt vor den Torheiten westlicher Politiker, sonstiger Pro-fiteure und Abenteurer zu bewahren. Nur so besteht Hoffnung, daß sich die um Russland und China gelegte Schlinge der Anakonda nicht mit katastrophalen Fol-gen für die Welt zuzieht.
……
Diese “Erinnerung…“ hat der Autor anläßlich des 75. Jahrestages 2020 auf ihren Wunsch an Liudmila Kotlyarova (RIA Novosti/sputniknews) übermittelt. Er hat sich entschieden, an der damaligen Fassung nichts zu ändern, obwohl die geopolitische Situation inzwischen eine etwas andere ist.